Mobiles Lernen ist “noisy”, sagt John Traxler. Was soll man also Lehrer*innen mit auf den Weg geben, die erst am Anfang des Einsatzes von Mobiltechnologien im Unterricht stehen? Und wie kann man Neulingen im Bereich des Mobilen Lernens die Angst vor der Wucht von groß angelegten und erfolgreichen Vorzeigeprojekten nehmen? Ich habe beim mich Workshop “M-Learning von A-Z” bei der Education Group in Linz für Komplexitätsreduktion und in diesem Zuge für die folgenden Aspekte entschieden. Sie sind mit Blick auf das “geräuschvolle” Feld Mobile Learning defizitär, das bleibt nicht aus. Und sie sind stark durch meine alltagsnahe und kulturökologische Perspektive auf das Feld geprägt. Entsprechend fokussiere ich die Dimensionen Alltag und Schule, subjektives Handeln und objektive Anforderungen, räumliche Bewegung und zeitliche Nachhaltigkeit. Dabei distanziere ich mich von einer Technologiezentrierung – und in diesem Zusammenhang auch von einem Verständnis von Mobilem Lernen, das Mobiltechnologien im Unterricht verankert, allerdings jedweden Aspekt von Bewegung vermissen lässt.
Lernräume eröffnen
Mobiles Lernen lebt von den vielfältigen Optionen des Lernens unabhängig von Zeit und Ort, von den Handlungskompetenzen, die die Lerner*innen im alltäglichen Umgang mit den Mobiltechnologien ausgebildet haben, von den Ressourcen, die durch den Zugriff auf das Internet und andere Räume unseres Alltags zur Verfügung stehen. All das kann Einzug finden in schulisches Lernen, und zwar nicht nur, indem Schule den Alltag der Schüler*innen mit schulischem Lernen spickt, sondern indem Lehrer*innen im Unterricht zulassen, was den Schüler*innen in ihrem Alltag in Zusammenhang mit Lernen (nur nennt man es außerhalb von Schule eher Aneignung und die geschieht in Zusammenhang mit Hobby, Interesse oder Fantum) gelingt. Das wäre eine Dimension des Eröffnens von Lernräumen. Lernräume sind aber auch als Konstrukte zu verstehen, die situativ hergestellt werden, analog oder digital, mit den Mitteln und Möglichkeiten, die im Moment verfügbar sind. Aus einer Idee oder einem Interesse oder dem Bedürfnis nach Konversation oder aus welcher Motivation auch immer heraus. Mit Blick auf die Britische M-Learning-Diskussion würde man solche spontan hergestellten, vergänglichen und oft auch nicht reproduzierbaren Lernräume “Learner generated Contexts”, also Lernergenerierte Contexte (Luckin 2010) nennen.
Mobil sein heißt in Bewegung sein
Im Internet kursieren Bilder von Notebook- und iPadklassen, auf denen Schüler*innen zu sehen sind, die mit Notebooks an ihren Schulbänken sitzen, dem oder der frontal unterrichtenden Lehrer*in zugewandt. Ist das wirklich Mobiles Lernen? Gehört zum Mobilen Lernen nicht auch ein gewisses Maß an räumlicher Mobilität? Wer die Diskussion zum Mobilen Lernen kennt, weiß: auch die Mobilität von Kontexten und Konzepten legitimiert die Verwendung des Präfix “mobil”, insofern sind die Fragen als rhetorische zu betrachten. Dennoch: Unterricht im Feld, mit echtem Alltagsbezug, mit Kontakt zu und Gesprächen mit “relevanten Anderen”, Experten und “more able partners” (siehe z.B. Luckin 2010) im Lernprozess, mit der Möglichkeit, in Interaktion mit dem Lerngegenstand zu treten, in der Stadt Eindrücke zu sammeln, die an den Unterricht rückgebunden werden sind als Möglichkeiten und Chancen aufzufassen, die durch die Mobiltechnologien eröffnet werden. Das geschieht jedoch nur, wenn man sich an das heranwagt, was Mobiltechnologien in der Alltagsnutzung eigentlich ausmachen, nämlich das Sammeln, Kommunizieren, Posten, Bewerten, Netzwerken, Produzieren, Rezipieren, Unterhalten, Konsumieren, räumliche Flexibilität, subjektiv geprägte, intuitive und affektive Nutzung der Geräte.
Schüler*innen als Experten anerkennen
Lenkt man seinen Blick auf den Alltag der Schüler*innen, wird man sehen, dass sie während ihrer Freizeit lernen, sich Wissen aneignen, Expertise in bestimmten Bereichen entwickeln, Kompetenzen ausbauen. Sie tun dies vermutlich vornehmlich in Zusammenhang mit ihrer Alltagsorganisation, ihren Hobbys und ihrem Fan-sein – oder aus einfachem Interesse heraus. Solche Ausprägungen von alltagsgeprägtem und informellem Lernen können in kleinen Einheiten in den Unterricht integriert werden, indem man “Kommunikationsbrücken”/”Konversationsanlässe”/”conversational threads” baut/schafft/aufgreift (Bachmair 2010; Seipold et al. 2010; Pachler 2010). Das funktioniert, indem man Schüler*innen z.B. mit selbst gewählten Mitteln, Medien und Modi Präsentationen (nicht zwingend Folien, auch Plakate, Prezis, Fotostories, Filme, Podcasts, Videos, online storytelling, …) erstellen lässt, sie als Fachmänner und -frauen zu Diskussionen in Expertenrunden auffordert, sie per peer teaching Informationen austauschen lässt. So werden Schüler*innen motiviert, zu verbalisieren, zu lesen, zu schreiben, zu reflektieren, Informationen aufzubereiten und weiterzugeben. Der Fantasie und den Möglichkeiten der digitalen Medien sind dabei wenige Grenze gesetzt, und die Schüler*innen dürften mit vielen der Möglichkeiten durch ihr alltägliche Mediennutzung mit ihnen vertraut sein.
An den Alltag der Schüler*innen anknüpfen
An den Alltag der Schüler*innen anzuknüpfen bedeutet, dies auf mehreren Ebenen zu tun: Schon die Verwendung von Mobiltechnologien im Unterricht ist der erste Schritt, erst recht, wenn die Geräte die der Schüler*innen sind. Sind die Geräte erst einmal im Klassenzimmer in Gebrauch, wird schnell deutlich, in welchen Bereichen außerdem die Anknüpfung an der Alltag der Lerner*innen geschehen kann. Hier sind die Apps oder Programme zu nennen, die Zugriff auf bestimmte Funktionen, soziale Netzwerke oder Inhalte erlauben. Fotos von der letzten Party, der Schwester, den Freund*innen, Musik auf dem Gerät und in der Cloud, “trending videos” auf Youtube und Fotos auf Instagram, Kommentare zu einer Statusmeldung auf Facebook von Bekannten – all das und noch viel mehr ist als Ressource verfügbar, auf die jedenfalls im Alltag zugegriffen wird (und in der Schule teils ebenfalls zugegriffen werden könnte). Die Handhabung dieser Funktionen geschieht mittels der Handlungskompetenzen der Schüler*innen. Sie sind von Schüler*in zu Schüler*in unterschiedlich ausgeprägt, abhängig von Verfügbarkeit und daran angebundene Möglichkeiten (Habe ich bestimmte Technologien verfügbar? Kann ich entsprechend auf bestimmte Funktionen und Inhalte zugreifen und meine Handlungskompetenzen entsprechend ausbauen?). Es geht also bei der Anbindung an den Alltag der Schüler*innen um die Geräte und ihre Funktionen, aber auch um Inhalte, die Fähigkeit, mit ihnen umzugehen, um Wissen, das um diese Inhalte und Fähigkeiten herum ausgebildet wurde.
Informelles Lernen erwünscht
Kommen Mobiltechnologien ins Spiel, wäre es schade, in der Schule die Spontaneität und Affektivität, die typisch für die Alltagsnutzung sind, auszuklammern und die Nutzung der Mobiltechnologien in möglicherweise geradlinige Strukturen zu zwängen. Wenn es lediglich darum geht, mit den mobilen Geräten Fotos zu machen – warum verwende ich dann nicht einfach Digitalkameras? Wenn ich die Geräte benutze, um via App Zugriff auf eine Formelsammlung zu bekommen – warum nutze ich dann nicht das Heft mit der Formelsammlung? Mobiles Lernen hat viel mit Kommunikation und Austausch zu tun, damit, sich zur Bewertung zu stellen und andere zu bewerten, spontan Informationen zu recherchieren und sie direkt anzuwenden oder mit anderen zu teilen. So funktioniert das oft intuitiv und “informell” im Alltag und die dazugehörigen Handlungsstrategien sind aus Sicht der Schüler*innen mit Blick auf die zu erreichenden Ziele legitim und auch optimiert. Vor diesem Hintergrund stellt sich also die Frage, an welcher Stelle genau sich “informell” und “formell” voneinander abgrenzen und warum nicht auch das alltagsnahe Lernen, die alltägliche Aneignung von Informationen und Wissen – was sich oft als stark formalisiert (weil optimiert) präsentiert – nicht auch als schulisches Lernen in Frage kommen sollte.
Gruppenarbeit unterstützen
Oft steht die Frage im Raum, wie man als Lehrer*in damit umgehen soll, wenn einige Schüler*innen keine Smartphones oder Tablets haben oder sich mit alten Handys behelfen müssen, während andere Schüler*innen die aktuellste Technologie verfügbar haben. Die Antwort ist Gruppenarbeit oder peer teaching oder kollaboratives Lernen oder wie auch immer man diese Form des gemeinsamen Lernens nennen möchte. Vorteil dabei ist, dass im Idealfall nicht nur ein Austausch mit Blick auf die technische Handhabung der Geräte stattfindet, sondern tatsächlich auch das gemeinsame Aushandeln von Inhalten und Ressourcen, die für die Bearbeitung der Aufgabenstellung in Frage kommen, das Aushandeln von Strategien zur gemeinsamen Bearbeitung der Aufgabenstellung und das Aushandeln der Arbeitsaufteilung bei der Präsentation der Ergebnisse. Dabei steht dieses Vorgehen nicht nur unter dem Vorzeichen von Effizienz, sondern hat nebenbei auch den Effekt, dass Schüler*innen sich über Sinn und Unsinn bestimmter Lernstrategien, präferierten Modi, Sozialformen und die Relevanz von Informationen und Informationsquellen für Lernen auseinandersetzen und dabei gegebenenfalls sich den Perspektiven der Mitschüler*innen gegenüber öffnen.
Kleinschrittig denken
Nach wie vor Angst vor dem Einsatz von Mobiltechnologien? Denken Sie kleinschrittig! Es sind nicht die groß angelegten Projekte, mit viel Geld gefördert und mit der neuesten Mobiltechnologie unterstützt, die als “best practice” gelten müssen. Es reicht aus, in kleinen Einheiten oder “Szenarien” zu denken und sich z.B. zu überlegen, wie zum Thema Frühlingsblumen ein e-Book entstehen kann, wie Schüler*innen sich mit mathematischen Formen in ihrem Alltag auseinandersetzen oder unter Einsatz welcher Technologien Schüler*innen in ihrem Alltag lesen und schreiben. Auch das ist Mobiles Lernen, das durch seine Alltagsanbindung vermutlich nachhaltiger ist als große Vorzeigeprojekte.
Du hast tragbare Technologien – aber bist du schon mobil?
Und letztlich steht noch der Hinweis aus, dass Mobiles Lernen durchaus den Anspruch haben sollte, die Möglichkeiten zu nutzen, die “Mobil”Technologien bieten. Also kommunizieren, organisieren, sich bewegen, recherchieren, lesen, schreiben, netzwerken, planen, veröffentlichen, filmen, fotografieren, bewerten, kopieren, löschen, eintragen, austragen, zum passenden Zeitpunkt einschalten und auch ab und zu einmal ausschalten …
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Referenzen
Bachmair, Ben (2010a): Einleitung: Medien und Bildung im dramatischen kulturellen Wandel. In: Bachmair, Ben (Hrsg.): Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschsprachige und britische Diskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften , S. 9-30.
Luckin, Rosemary (2010): Re-designing learning contexts. Technology-rich, learner-centred ecologies, New York: Routledge.
Pachler, Norbert (2010): The Socio-Cultural Ecological Approach to Mobile Learning: An Overview. In: Bachmair, Ben (Hrsg.): Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschsprachige und britische Diskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften , S. 153-167.
Seipold, Judith (2012): Mobiles Lernen. Analyse des Wissenschaftsprozesses der britischen und deutschsprachigen medienpädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Mobile Learning-Diskussion, Kassel: Universität Kassel.
Seipold, Judith (2014): Mobiles Lernen. Grundlagen, Kontexte und didaktische Optionen. (Invited Keynote). 3. DaFWEBKON 2014, 15. März 2014, Online. Abstract | Slides | Video
Seipold, Judith; Rummler, Klaus; Rasche, Julia (2010): Medienbildung im Spannungsfeld alltäglicher Handlungsmuster und Unterrichtsstrukturen. In: Bachmair, Ben (Hrsg.): Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschsprachige und britische Diskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften , S. 227-241.